
Die gelbe Markierung zeigt den Ort der durch englisches Militär aufgelösten Demonstration. Quelle: Stadtarchiv Solingen, Ausschnitt Pharus-Plan VII-G-3, 1925

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 7. August 1923
Demonstrationen während Lohnverhandlungen in Solingen: Englisches Militär „säubert“ Straßen von Menschenmenge
Aus Stadt und Umgegend.
Solingen, 7. Aug[ust]
Zwischenfälle bei den gestrigen Lohnverhandlungen.
Die neuen Kollektivvertraglöhne.
Die gestern stattgefundenen Lohnverhandlungen für die Kol-
lektivarbeiter der Solinger Industrie nahmen einen sehr schwie-
rigen Verlauf, was aber in erster Linie auf durch Demonstra-
tionen hervorgerufene Außenwirkungen zurückzuführen ist. Schon
in den ersten Nachmittagsstunden hatte sich vor dem Verwaltungs-
gebäude des Arbeitgeberverbandes, wo die Verhandlungen statt-
fanden, eine größere Anzahl von meist jugendlichen Arbeitern
eingefunden, die am Kriegerdenkmal und auf den Bürgersteigen
Posten faßten, um „das Ergebnis der Verhandlungen abzuwarten“.
Nach Arbeitsschluß fanden sich weitere Interessenten ein. Neu-
gierige schlossen sich an, und in den Abendstunden waren der
Mühlenplatz, die Kaiserstraße bis zur Brüderstraße so stark be-
setzt, daß der Verkehr behindert wurde. Die herbeigerufene Po-
lizei hatte zum Ordnungsdienst eine größere Anzahl von Beam-
ten am Toreingang des Verhandlungsgebäudes und auf der
Straße aufgestellt. Die Arbeitnehmervertreter erschienen zeit-
weilig aus der Sitzung und ermahnten die Menge zur Ruhe.
Gleichzeitig wurde bekannt, daß ein englisches Schutzkommando
sich im Gebäude des Arbeitgeberverbandes befand. Trotzdem
drang eine Anzahl junger Burschen in den Garten des Gebäudes
ein und mußten von dort aus vertrieben werden. Mit Einbruch
der Dunkelheit wuchs die Erregung der Wartenden. Mahnungen
der Arbeitnehmervertreter und eines englischen Offiziers blieben
erfolglos. Nach 10 Uhr erschien dann ein starkes Kommando
englischen Militärs, säuberte die Kaiserstraße vom Mühlenplatz
bis zur Brüderstraße und die Umgebung des Verhandlungs-
gebäudes und sperrte die Straße gemeinschaftlich mit der deut-
schen Polizei ab. Die Menschenmenge floh auseinander und
wurde in die Nebenstraßen gedrängt. Die unbeteiligten Straßen-
passanten, die ins Innere der Stadt wollten, wurden ebenfalls
„umgeleitet“. Namentlich viele Schützenfestbesucher ereilte das
Schicksal. In kurzer Zeit war aber die Ruhe wieder hergestellt,
und die Besatzungstruppen konnten wieder abziehen. Die deutsche
Polizei blieb als Wache zurück, brauchte aber nicht mehr in
Tätigkeit zu treten. Verhaftungen und Verletzungen kamen nicht
vor.
Bei der Verurteilung der ganzen Vorfälle muß festgestellt wer-
den, daß der größte Teil der Demonstranten aus jungen Bur-
schen bestand. Aeltere Arbeiter sah man sehr wenige dazwischen.
Es scheint, als ob bestellte Arbeit von unverantwortlicher Seite
vorgelegen hat. Jedenfalls lehnten die anwesenden Gewerk-
schaftsvertreter aller Richtungen die Verantwortung für die Er-
eignisse ab. Auch ist die Feststellung von Wert, daß vom Ar-
beitgeberverband lediglich die deutsche Polizeibehörde, nicht aber
die Besatzungsbehörde benachrichtigt worden ist.
Auf die Verhandlungen selbst waren die Vorfälle insofern von
Einfluß, als sich die Beratungen bis ½ 2 Uhr nachts hinzogen.
Sie hatten das Ergebnis, daß für die Zeit vom 30. Juli bis
4. August eine Nachzahlung von 50 Prozent auf die bestehenden
Löhne des Kollektivvertrages bewilligt wurden. Außerdem wird
der Teuerungszuschlag auf die Löhne vom 30. Juli ab (ohne die
50 Prozent) auf 120 Prozent festgesetzt. Mit weiteren Ver-
handlungen im Laufe dieser Woche kann gerechnet werden. Die
Verhandlungen über die Löhne der Heimarbeiter finden heute
statt. Sch.
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Stadtarchiv Solingen: RK (7. August 2023). 7. August 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 18. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aefy