Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 4. Juli 1923
Ein Überblick zur außen- und innenpolitischen Lage Deutschlands nach einem halben Jahr „Ruhrkampf“. Er enthält milde Kritik gegenüber den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Reichsregierung, fordert aber von ihr stärkeren Einsatz für den Kampf um die innere Einheit der Republik, v.a. mit Blick auf die politische Hetze und Gewalt bis hin zum Mord (die auch den Journalismus bedrohen).
Zur Lage.
Der Reichstag fand bei seinem Wiederzusammentreten am
2. Juli eine vollständig veränderte Situation vor. Als er vor
etwa 14 Tagen auseinanderging, hatte die innere Lage Deutsch-
lands, obwohl sie schwer genug war, und obwohl die Anzeichen
eines völligen Markzusammenbruchs schon ernst am Horizont
standen, noch nicht das bedrohliche Gesicht von heute. Die inneren
Gegensätze waren nur latent vorhanden, und der Reichstag konnte
sogar in der Frage der Sicherung der Brotversorgung mit einer
Einheitsfront von Breitscheid bis Helfferich paradieren, eine Er-
scheinung, wie sie in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr
gesehen war.
Auch die außenpolitische Situation war vor 14 Tagen, wenn
auch nicht prinzipiell besser, so doch noch von einigen Hoffnungen
beflügelt, die unterdessen in nichts zerronnen sind. Die zweite
Note des Kabinetts Cuno hatte eine wohlwollende Kritik des
Auslandes gefunden, an der sich Frankreich und Belgien zwar
nicht direkt beteiligt hatten. Die französische Zurückhaltung schien
ihr doch die Möglichkeit zu geben, daß in den Verhandlungen zwi-
schen London und Paris in der Hauptschwierigkeit, nämlich der
Beseitigung des passiven Widerstandes, eine für das deutsche
Interesse und das französische Prestige erträgliche Lösung gefunden
werden könnte. Unterdessen aber haben sich die Verhandlungen
zwischen Frankreich und England versteift, sind durch die Debatte
über das Luftwettrüsten verschärft und hat Poincare in einer
durch den päpstlichen Schritt zugunsten Deutschlands provozierten
Rede den Standpunkt Frankreichs in der alten Starrheit wieder
festgelegt. Diese Momente sprechen nicht für eine Kompromiß-
lösung der Ruhrfrage, wie sie durch die deutsche Mainote und
das im Juni beigefügte Memorandum erstrebt worden sind, son-
dern alles deutet darauf hin, daß der Kampf an der Ruhr, der
schließlich nur ein Symbol für den Anspruch Frankreichs auf
unumstrittene Hegemonie in Europa und für den deutschen Wider-
stand dagegen ist, bis zum bitteren Ende durchgekämpft werden
muß.
Die schlimmsten Feinde, die Deutschland auf diesem schweren
Wege erwachsen, sind die wirtschaftliche Not, die im Gefolge des
unvermeidbaren Marksturzes immer weitere Schichten in das
tiefste Elend reißt, und die politischen Tollheiten, zu denen in
der Siedehitze dieses nationalen Kampfes unbesonnene aber auf-
gehetzte, vielleicht auch vom Gegner bestochene Elemente der Be-
völkerung sich hinreißen lassen. Gegen den ersten Feind ist, wie
wir glauben, kein richtiges Kraut gewachsen. Alle Bemühungen
der Reichsregierung, durch Devisenverordnungen, durch Inter-
ventionen der Reichsbank mit unzulänglichen Mitteln oder gar
durch salbungsvolle Ermahnungen an die Kreise, die aus dem
Marksturz und seinen Begleiterscheinungen ihren Profit ziehen,
alle diese Maßnahmen sind zwar gut gemeint, helfen aber, wie
sich gezeigt hat, nicht das Geringste. Die Mark als Währung ist,
solange der außenpolitische Druck der Ruhrbesetzung auf uns
ruht, und solange die große wirtschaftliche Frage der deutschen
Politik, nämlich die Reparationsfrage, nicht eine Lösung gefunden
hat, eine naturnotwendige Erscheinung, und wir müssen uns da-
mit vertraut machen, daß die Entwertung der Mark, nachdem sie
österreichische Begriffe längst hinter sich gelassen, nunmehr die
Formen der russischen Rubelentwertung annehmen wird, über die
wir noch vor kurzem wie über ein Märchen aus Tausend und
eine Nacht staunten. Vorwürfe an die Regierung oder an die
Wirtschaft zu richten, halten wir für völlig überflüssig; höchstens
könnten solche, zurückschauender Natur, gegen die Regierung er-
hoben werden, die vor sechs Monaten in den Ruhrkampf eintrat,
ohne Klarheit, welche schweren Formen er bei langer Dauer an-
nehmen mußte, und ohne den Mut, das Volk illusionslos durch
die schwerste Periode der deutschen Politik zu führen.
Wo aber gebessert werden kann, und wo von der Regierung
und von den verantwortlichen Parteien endlich deutlichste Worte
verlangt werden müssen, das ist in der zweiten, der oben ange-
deuteten Gefahren für unsere innere Front. Die Morde an po-
litischen Gegnern und die stille Hetze dazu, die Verfehmung von
Menschen durch unkontrollierbare Banden, die Sprengattentate
auf mißliebige Zeitungen und dergleichen Erscheinungen einer
wachsenden anarchischen Gesinnung müssen schleunigst aufhören,
wenn die Regierung den bedrohten Massen des freiheitlichen
Bürgertums und der Arbeiterschaft noch länger zumuten will,
ihr aus politischen Gründen Vertrauen zu schenken. Aber auch
der Ruhrkampf selbst darf nicht weiter belastet werden mit den
Taten einzelner geheimer Organisationen, für die nicht die Täter
selbst, sondern die ganze Bevölkerung zu leiden haben. Die
leise Mahnung des Kanzlers genügt nicht. Es müssen jetzt deut-
liche Worte gesprochen werden; dazu wird sich im Reichstag Ge-
legenheit bieten. Hoffen wir, daß die Regierung sich nicht, wie
schon so oft, zu Notwendigem und Nützlichem erst treiben läßt,
sondern daß sie in dieser wichtigen politischen Frage entschlossen
und mutig die Initiative nimmt. D.
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Stadtarchiv Solingen: RK (4. Juli 2023). 4. Juli 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 17. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/aecn