Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 8. Juni 1923

„Mahnruf“ an die Öffentlichkeit: Es ist die „vornehme Pflicht“ Rücksicht auf schwangere Frauen zu nehmen.

        ʘ  Mehr Schutz den hoffenden Frauen! Es wird in der letzten
Zeit lebhafte Klage darüber geführt, daß die Rücksichtnahme sowohl
der Bevölkerung wie der amtlichen Stellen, z. B. bei Ausgabe von
Brotkarten, Zucker und dergleichen Gelegenheiten, bei denen man meist
lange Zeit in einer Reihe stehen muß, ehe man abgefertigt werden
kann, außerordentlich zu wünschen übrig läßt. Es sollen Fälle vor-
kommen, bei denen hoffende Frauen, die kurz vor der Niederkunft stehen,
trotz des Wissens der Umstehenden und der diensthabenden Beamten
eine dringend notwendige, bevorzugte Behandlung nicht erreichen
können und in dem Gedränge kaum wissen was sie machen sollen.
Dazu gibt es viele halbwüchsige Burschen, die es nicht unterlassen
können, bei solchen Gelegenheiten hoffende Frauen in unflätigster Weise
zu beleidigen, ohne daß sich jemand dafür einsetzt, daß solche Redens-
arten unterlassen werden. Auch den amtlichen Stellen wird der Vor-
wurf gemacht, daß sie von der Vorschrift, wonach z. B. die Brotkarte
von der Hausfrau selbst abgeholt werden muß, auch bei hoffenden
Frauen nicht absehen und die Abgabe der Karten an Kinder selbst im
Alter von 15 und 16 Jahren mit dem Hinweis auf die Vorschrift
verweigern, sodaß die in Frage kommenden Frauen trotzdem gezwungen
sind, die Karten selbst zu holen und sich dabei den oben geschilderten
Unzuträglichkeiten aussetzen. Es ist dringend zu verlangen, daß das
Wohlfahrtsamt und die Polizei auf diese Dinge ihr Augenmerk
richten und entsprechende Anweisungen zu bevorzugter Behandlung
hoffender Frauen erlassen. Aber auch das Publikum muß daran er-
innert werden, daß es eine vornehme Pflicht ist, von selbst für die
hoffenden Frauen Sorge zu tragen, wie man das in früheren Jahren
als eine Selbstverständlichkeit angesehen hat. Ganz ähnliches trifft
übrigens auch für die Straßenbahn zu, wo es vielfach kaum jemand,
und meist gerade junges Volk, für nötig hält, einer hoffenden Frau
einen Platz anzubieten, und man vermißt auch hier vielfach ein Ein-
greifen des Schaffners, der für die Freimachung eines Platzes sorgen
müßte. Die uns vorgetragenen Fälle sind so ernster Natur, daß wir
nicht umhin können, diesen Mahnruf in aller Oeffentlichkeit an die
Bürgerschaft zu richten.

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