19. Februar 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 19. Februar 1923

Der sozialdemokratische Innenminister Preußens, Carl Severing, besucht Solingen für eine Rede im Kaisersaal. Ihm antwortet für die KPD Oskar Plenge. Das Koreferat für die VSPD hält Redakteur Olk aus Elberfeld .

                Severings Niederlage in Solingen.
                Was wollte Severing in Solingen?
   Diese Frage gilt es für die hiesige Arbeiterschaft der ihm
gestern zum Thema dienenden entgegenzustellen, nämlich jener: „Was
erfordert von uns die Stunde?“ Man kann wohl mit vollem Recht
konstatieren, daß das mit großem Tamtam seitens der VSPD. in
die Arena geführte Paradepferd vollständig enttäuscht
hat. Was man von dem Polizeiminister, wie er sich der Versamm-
lung wiederholt vorstellte, eigentlich erwartet hatte, nämlich kon-
krete Winke und Ratschläge für das schwer unter der Stinnesfuchtel
seufzende Proletariat, den innern und äußern Druck abzuwehren,
blieb das Geheimnis Severings. Was er den äußerst zahlreich Er-
schienenen erzählte, war höchstenfalls eine ministerielle Bestätigung
der am verflossenen Sonntag von Sauerbrey verzapften nationa-
listischen Tiraden. Alles alter, zum soundsovielten Male aufge-
wärmter Kohl, womit man der Solinger Arbeiterschaft wahrlich
nicht imponieren kann.
   Severing, vom Oberbürgermeister Dicke persönlich zum
Kaisersaal begleitet, freute es, wie er sagte, gestern zum drittenmal
vor der Solinger Arbeiterschaft reden zu dürfen. Und schlau wie
der Fuchs, dem die Trauben reichlich hoch hängen, versuchte er
gleich anfangs die Solinger Arbeiterschaft zu poussieren, indem er
erklärte, gleich wie 1905 und 1905 [korrekt 1908, als er hier gesprochen, wolle er
auch heute wieder über die Bedeutung der Arbeiterschaft im Pro-
duktionsprozeß reden. Damit glaubte Severing hier den besten
Räsonanzboden zu finden. Doch sein übersprudelndes National-
empfinden verleitete ihn sofort dazu, sich auf das Glatteis zu be-
geben. Und so stiebelte er gleich los ins Ruhrgebiet, das Karl
Severing seinerzeit an der Seite des „republikanischen“ Generals
O. Watter recht oft im Auto durchreiste. Im Kohlenrevier wird man
jene mehr als sonderbaren Exkursionen nie vergessen. Und nun
lassen wir Severing weiter zu Worte kommen. Er sagte unter
anderm: Der Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet steht heute
im Mittelpunkt des Interesses. Der Widerstand der Ruhrbevölke-
rung zeigt Poincaré und Millerand — den ehemaligen Sozialisten —
daß mit Bajonetten und Kanonen nicht alles zu machen ist. Ich
einnere [sic!] mich noch gern der Verhandlungen in Spaa, woran der
verstorbene Bergarbeiterführer Hue teilnahm, der den Franzosen
sagte: „Ihr könnt wohl das Ruhrgebiet besetzen, aber keine Kohlen
fördern. Und seine Prophezeiung ist eingetroffen. Die gesamte
Bevölkerung steht in der Abwehrfront. (Zuruf: Im Interesse der
Unternehmer!). Jawohl, soweit die Interessen der Unternehmer mit
denen der Arbeiter zusammenfallen. (Schallendes ironisches Ge-
lächter. Severing, drohend den Zeigefinger erhebend: Warten Sie
mal ab, wenn die Franzosen mal nach hier kommen! Was Hue
damals sagte, das war der deutsche Protest in Pränumerando. Die
Erfüllungspolitik ist uns so oft zum Vorwurf gemacht worden von
rechtsstehenden Nörglern. Aber sie haben unrecht. Hätten wir im
Jahre 1919 nicht den guten Wallen [sic!] gezeigt zum Erfüllen, dann
stände Deutschland heute allein da. Durch die nunmehrige Isolie-
rung Frankreichs werden wir den wirtschaftlichen Sieg erringen.
Man bedenke doch auch stets, daß der heutige Zustand eine Folge
des langjährigen Krieges ist. (Woran die Freunde Seve-
rings aber doch ein gerüttelt Maß voll Schuld mit
tragen durch ihre Durchhaltepolitik! Red.). Daß
die deutschen Unternehmer heute mit uns im Kampfe stehen, ist kein
Unglück für uns. (Heftige Zwischenrufe, wie z. B.: Vertrag der
Badischen Anilinfabriken! Severing, der kurioserweise fast auf
jeden Zuruf reagiert, erwidert verlegen: „Das ist Leipziger Allerlei.“
Prompte Antwort: „Guten Appetit!“) Severing fortfahrend: Heute
heißt es: Was ist unsere Pflicht in dieser Stunde? Jeder Deutsche
sollte sich heute in der Abwehr mit uns befinden gegen den fran-
zösischen Militarismus! (Und der deutsche? Siehe Bayern!) In
Bayern bin ich der Bestgehaßteste. (Proletarische Revolutionäre
schmachten dort im Zuchthaus!) Nun, dann wollen wir sie doch
herausholen! (Bei diesen Worten des Redners dröhnt der Kaiser-
saal von schallendem Gelächter und zynischen Zurufen.) Wohin soll
das führen, wenn den Kindern im besetzten Gebiet heute die so not-
wendige Milch fehlt und sie schwer erkranken! (Zwischenruf: Das war
schon immer der Fall, ehe die Franzosen da waren!) Schulbänke
werden verbrannt, Polizeimannschaften von den Franzosen miß-
handelt. Und das nennt sich Kulturnation! Wie haben wir nun
den Kampf zu führen? Nicht mit Waffen, wie die Franzosen, das
wäre Wahnsinn. Die Arbeiter müssen an der Spitze dieses Kampfes
stehen. Zur „Ruhrhilfe“. Ich schließe mich den bittern Klagen über
dieselbe an. Aber es müssen schlechte Haushalter sein, die in solcher
Weise wirtschaften, denn die schwerste Zeit kommt erst noch.
   Und nun folgte ein merkwürdiges Eingeständnis Severings, die
Bekennung einer schweren Schuld der sozialdemokratischen Führer,
die er nun aber den Arbeitern zuschieben möchte. Er sagte nämlich:
„Die Arbeiterschaft Deutschlands ist während des Krieges in aller
Welt in Verruf gekommen, das gilt es wieder gutzumachen.” Das
ist unbedingt eine unerhörte Anschuldigung. Die
Führer der Arbeiter ganz allein haben die Schuld, zu tilgen, aber
sie waten bereits wieder in demselben Sumpf.
   Gegen den Wucher fand Herr Severing recht scharfe Töne und
empfahl die schwersten Zuchthausstrafen gegen das Wucherge-
sindel. Aber, „die Botschaft hör’ ich wohl, mir fehlt jedoch der
Glaube.“ Auch gegen die chauvinistischen Treibereien zog Redner
vom Leder und geißelte die blöde Gröhlerei, wie „Siegreich woll’n
wir Frankreich schlagen“ usw. (Zwischenruf: „Das tun auch So-
linger Polizeibeamte!“) Severing reagierte darauf: „Dann taugen
sie eben nichts und sind die betreffenden Beamten Dummköpfe.“ Der
Minister kam alsdann zu Ende, indem er nochmals zum einigen
Kampf aufrief gegen den französischen Militarismus und Kapitalis-
mus, aber — wörtlich —: „nicht mit dem Maul!“ Und er
verriet den Versammelten daß der Regierung noch andere Kampfes-
mittel zur Verfügung ständen.
   Genosse Plenge hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Anwesen-
den zu sagen, was für die Arbeiterschaft denn eigentlich das Gebot
der Stunde ist. Er sagte, die Cuno-Regierung setze ja bekanntlich
wieder die größten Hoffnungen auf die starken Nerven des Volkes.
Denken wir nur an den Krieg 14-18, dann wissen wir, was das
bedeutet. An den anwesenden Oberbürgermeister Dicke richtete Plenge
die Anfrage, wie er dazu komme, bei unserer Parteileitung sich zu
erkundigen, ob die Kommunisten die Versammlung sprengen wollten.
Er nehme an, daß der Vorstand der VSPD. nicht hinter dieser
naiven Anfrage stehe. Nun ging Redner auf die von Severing
zitierte Rütliszene ein und meinte, gewiß wolle das arbeitende Volk
den Einheitskampf führen, weil eben die Arbeiterschaft
am schwersten unter der Bedrückung leidet, unter
der kapitalistischen Bedrückung von allen Seiten.
Was ist denn eigentlich das Gebot der Stunde? Die größtmögliche
Abwehr und zwar recht bald. Kann man aber einen solchen Kampf
führen mit den deutschen Schwerkapitalisten? Nein, dadurch ver-
größert man nur die Folgen der Besetzung. Die proletarische Revo-
lution wird dadurch unendlich erschwert, deshalb fort mit der Ein-
heitsfront mit den Kapitalisten! Vollkommen selbständig
muß das arbeitende Volk diesen Kampf führen
gegen das deutsche Kapital, die Schwerindustrie, die uns das Ruhr-
abenteuer beschert hat, und selbstverständlich auch gegen den fran-
zösischen Militarismus. Der europäische Montantrust soll aufgebaut
werden auf den Schultern des Proletariats. Nur die Lohn- und
Gehaltsempfänger stützen die Republik, das beweisen die 75 Prozent
der gesamten Steuereinnahmen. Das Großkapital spekuliert noch
mit unserer Lohnsteuer, und nach der „Rheinischen Zeitung“ sollen
die Steuergelder künftig noch länger in den Händen der Unternehmer
bleiben. (Hört, hört!) Wer soll die Kosten der Erfüllung
tragen? Nur die verantwortlich sind am Kriege und an der
Ruhrkatastrophe. Sie, die Stinnes, Thyssen, Klöckner usw., die stets
von der „Faulheit der Arbeiter“ geredet und ihr Kapital
ins Ausland verschoben, die Zechenbarone zahlten die Kohlensteuer
stark entwertet erst nach einem großen Spektakel im Reichstag. Das
ist dieselbe Gesellschaft, die heute die lieben Kumpels, wovon Seve-
ring sprach, den Bruder Arbeiter heuchlerisch umschmeichelt. Das
Stabilisieren der Mark ist nur eitles Gerede. Bald wird ein neuer
Marksturz erfolgen. Es liegen schon auch in Solingen Arbeitsein-
schränkungen vor. Die Erfassung der Sachwerte der
Stinnes und Konsorten sollte auch ernste Aufgabe der Sozialdemo-
kratie sein. Schon vor der Ruhrbesetzung waren über 50 Prozent
der Arbeiterkinder in Deutschland unterernährt und schwer erkrankt.
Mit der Zange müssen wir herangehen an den Be-
sitz, freiwillig geben sie nichts. Weg mit der Cuno-Regierung! Her
mit der Arbeiterregierung! Nach Beendigung des Rrhrkrieges [sic!] wer-
den Stinnes und Cuno ihre Forderungen an die Arbeiter und An-
gestellten stellen. Die Verteidigung der Arbeiterklasse
muß schleunigst organisiert werden. Es geht um
Taten. (Zuruf: Sachsen!) In Sachsen war keine Arbeiter-Regie-
rung. (Bewegung.) Die sächsischen Sozialdemokraten wollten nicht
proletarische Politik machen. (Zuruf: Rußland!) Rußland hat als
erste Macht uns Solidarität gezeigt. Sowjet-Rußland ist die einzige
stabile Macht der Welt! (Stürmisches Bravo! Viele sozialistische
Zeitungen sind gegen die heutige sozialistische Politik. Man kann
keine Front bilden mit den Erzfeinden des Prole-
tariats. (Bravo!) Nur wenn Sie proletarische Politik treiben,
werden wir den Friedensvertrag zerreißen. (Stürmischer Beifall.)
   Redakteur Olk-Elberfeld (VSPD.) kam alsdann zum Wort,
der im Gegensatz zu seinem Freund Severing bedeutend tiefer
schürfte. Manche seiner Ausführungen konnten jedem Kommunisten
imponieren, was denn auch schon die große Aufmerksamkeit der Ver-
sammlungsbesucher bewies. Im großen und ganzen erklärte Redner
sein Einverständnis mit unserm Genossen Plenge, nur vom Finanz-
wesen erkühnte er sich, mehr zu verstehen wie Pl[enge], was ihm den
trefflichen Zuruf einbrachte: „Du wirst Finanzminister!“ Olk ver-
langte ebenfalls schärfste Erfassung des Besitzes sowie ebenso scharfe
Bestrafung der Wucherer. Trotz der Einsicht, daß der „innere Feind“
der deutschen Arbeiterklasse mindestens genau so schofel, genau so
brutal handelt wie der „fremde Eindringling“ ins Kohlenrevier, sieht
er in diesem den weit gefährlicheren Plagegeist, der vernichtet werden
müsse. Auch wandte Olk sich gegen den Nationalismus, ohne einzu-
gestehen, daß die falsche einseitige sozialdemokratische Politik jenem
hurrapatriotischen Pöbel Wasser auf seine Mühlen liefert. (Siehe
Ohligs, Lennep usw.)
   Das Schlußwort Severings war geradezu ein vollkommenes
Fiasko für ihn. Hatte schon sein Referat enttäuscht, so wurde er in
seinem Schlußwort vollkommen zugedeckt mit zielsicheren
Zurufen, die ihn fast dauernd aus dem Konzept brachten. Mit
einigen leeren Phrasen versuchte er schließlich noch etwas zu retten,
was ihm jedoch nur bei dem kleinsten Teil der Zuhörer gelungen
sein dürfte.
   Diese Versammlung bedeutete zweifellos sowohl für Severing
wie auch für die VSPD. eine eklatante Niederlage, was
schon daraus hervorging, daß die Versammlungsleitung es nicht ein-
mal wagte, die übliche Entschließung zur Abstimmung zu bringen.
Damit sollte die glatte Blamage übertüncht werden und trotzdem
bleibt sie bestehen.


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Stadtarchiv Solingen (19. Februar 2023). 19. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 16. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aebg