3. Februar 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 3. Februar 1923

Nationalistische „Polenjagd“ im Bahnhof Elberfeld

            Hakenkreuzler als Polenfresser.
   Ein Freund unseres Blattes erlebte am 26. Januar d[iesen] J[ahre]s auf
dem Bahnsteig I des Elberfelder Hauptbahnhofs einen recht putzigen
Vorfall, der wert sein dürfte, weitesten Kreisen der Bevölkerung mit-
geteilt zu werden. Es heißt in dem Schreiben wie folgt:
      „Ich fuhr am genannten Tage zwecks persönlicher Angelegen-
   heit nach Elberfeld. Nach Erledigung derselben begab ich mich
   wieder nach der Bahn, wo ich gegen 6 Uhr den Bahnsteig I betrat,
   um mit dem Zugen 6,51 Uhr die Rückfahrt nach Opladen anzu-
   treten. Nach kurzer Zeit meines Aufenthalts im Wartesaal 3. und
   4. Klasse bemerkte ich, daß sich eine größere Menschenmasse ansam-
   melte, um dem sich dort aufhaltenden Transport Polen die Reise
   nach Frankreich unmöglich zu machen. Es kam da schon zu
   Zwistigkeiten mit dem Publikum, das in der Hauptsache aus dem
   Elberfelder Deutschen Jugendbund (auch Hakenkreuzler genannt)
   bestand. Dessen aber ungeachtet wartete ich das Eintreffen meines
   Zuges ab, wo ich mich dann als Schwerkriegsbeschädigter in das
   Abteil für Kriegsbeschädigte begab. Kurz nachdem ich dasselbe
   betreten hatte, kamen Angehörige des Deutschen Jugendbundes,
   die den ganzen Zug nach Polen absuchten, an mein Abteil. Mit
   der Frage, ob ich Pole wäre, verlangten die Bürschchen sogar von
   mir den Paß, welches Ansinnen ich jedoch mit Recht zurückwies.
   Die jungen Schnösel alarmierten sodann das ganze Publikum mit
   der Behauptung, daß sich hier noch ein Pole befände. Da nun
   keine Schutzpolizei zur Stelle war, lediglich ein Schutzbeamter in
   Zivil, dem ich meinen Paß abgegeben hatte, wurde ich von der
   aufgehetzten Rotte ohne weiteres aus dem Abteil geworfen und
   mit Stößen und Schlägen nach dem Wachtlokal
   befördert, wo dann endlich, die auf dem Elberfelder Haupt-
   bahnhof zuständige Schutzmannschaft eingriff und dem Publikum
   Einhalt gebot. Nach den darauf erfolgten Auseinandersetzungen
   mit den Schutz- und Bahnbeamten wurde mir erklärt, „daß ich
   noch Glück gehabt“ hätte, so davongekommen zu sein. Ist es nicht
   geradezu empörend, als Kriegsbeschädigter und deutscher Staats-
   angehöriger von solch dösig patriotischem Radaugesindel so be-
   handelt zu werden, anstatt Schutz und Hilfe zu finden!”
   So also benehmen sich die Herrschaften, die angeblich die deutsche
Republik schützen. Ihnen ist jedenfalls die jüngst erfolgte Aufhebung
des Verbots ihrer Organisation derartig zu Kopfe gestiegen, daß sie
den Himmel für einen Dudelsack halten. Weiter aber ist sehr inter-
essant, daß die „republikanische“ Schupo dem wüsten Treiben der
nationalistischen Grünschnäbel nicht vorbeugte, sondern scheinbar den
größten Spaß daran hatte.
   Die Arbeiterschaft möge auch aus diesem Vor-
fall lernen!


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Stadtarchiv Solingen (3. Februar 2023). 3. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 23. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/aeas