Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 13. Februar 1923
Die Bergische Arbeiterstimme zitiert zunächst aus einem Artikel der Bergischen Zeitung zum Brennstoffmangel in der Solinger Industrie, um anschließend Fragen und Forderungen an die Gewerkschaften zu ihrer Tätigkeit zu richten.
Wo bleiben die Gewerkschaften?
Aus Unternehmerkreisen erhält die hiesige „Bergische Zei-
tung“ Nachrichten über beginnenden Kohlenmangel und Ver-
suche, durch Verhandlungen mit den Besatzungsbehörden aus-
reichende Kohlenmengen sicherzustellen. U. a. schreibt das
Blatt folgendes:
„Die wirtschaftliche Lage der Solinger Industrie hat sich
infolge des Vorgehens der Franzosen im Ruhrgebiet in den
letzten Wochen täglich schlimmer gestaltet, so daß es vorab an
einzelnen Tagen bereits unumgänglich erschien, einige Betriebe
in der Arbeitszeit zu kürzen. Der Grund dafür war der Mangel
an Brennstoffen, dem aber durch gegenseitige Unterstützung der
Unternehmungen und in erster Linie durch einen Ersatz der
Ruhrkohle durch rheinische Braunkohle bisher noch abgeholfen
werden konnte. Inzwischen hat sich aber durch vollständiges
Ausbleiben jeglicher Kohlensendung aus dem Ruhrgebiet, auf
die einzelne Branchen (Gießereien) fast ausschließlich angewiesen
sind, die Lage so verschärft, daß sich die Industrie gezwungen
sah, durch ihre Interessenvertretungen auf grundlegende Ab-
hilfe zu drängen. Es wurden Verhandlungen mit der englischen
Behörde gepflogen, die zu einer Fühlungnahme mit den Fran-
zosen führte, um eine Freigabe der Kohlenlieferung für die
Solinger Industrie zu erreichen.“
Die „B. Z.“ teilt als Verhandlungsergebnis folgendes mit:
„Da der Brennstoffmangel in der Solinger Industrie mehr
und mehr in Erscheinung tritt und sich im Produktionsprozeß auch
schon recht unangenehm bemerkbar gemacht hat, sind Bestrebungen
im Gange, das völlige Erliegen der Industrie zu verhindern.
Gelegentlich solcher Verhandlungen wurden von französischer Seite
Kohlen und andere Brennstoffe, die in Vohwinkel beschlagnahmt
waren, zum Kauf angeboten. Verkaufsbedingung: Der Kohlenpreis
ist in französischen Franken an die Franzosen zu entrichten. Dieses
Ansinnen wurde natürlich rundweg abgelehnt“
„Ob die Verhandlungen in den nächsten Tagen andere Wege
der Kohlenversorgung eröffnen, bleibt abzuwarten. Die Industrie
sollte sich allerdings im Augenblick keiner übermäßigen Beunruhi-
gung, schon mit Rücksicht auf die allgemeine Stimmung, hingeben.
Aber man tut selbstverständlich gut, sich auf einen allgemeinen
Brennstoffmangel frühzeitig genug einzurichten und vor allen
Dingen im Verbrauch von Kohlen, Gas und Elektrizität größte
Sparsamkeit beobachten“.
Es ist richtig, daß Kohlenmangel sich auch in Solingen
bemerkbar macht. Es ist auch mit Bestimmtheit anzunehmen,
daß die Betriebseinschränkungen sich mehren werden. Wir
haben gestern bereits an dieser Stelle auf die drohende Arbeits-
losigkeit hingewiesen. Sehr verschärft wird die Lage der Ar-
beiterschaft durch bewußte Sabotage seitens der Unternehmer.
Diese können es mit ihrem „Patriotismus“ sehr gut verein-
baren, jetzt einen scharfen Schlag zu führen gegen die Arbeiter-
organisationen. Es liegen aus gewerkschaftlichen Kreisen Mel-
dungen vor, daß die Unternehmerverbände besonders die stär-
keren Gewerkschaften schwächen wollen durch Produktions-
einschränkungen und Stillegungen.
Natürlich will man auch gleichzeitig den „Volkszorn auf-
lodern“ lassen über die „rechtsbrüchigen Franzosen“, um un-
gestört das eigene Durchhaltegeschäft weitertreiben
zu können. In dieser Situation haben die Gewerkschaften am
Orte einzugreifen. Haben sich die großen Arbeiterverbände,
zum Beispiel der Metallarbeiterverband, schon mit der kritischen
Situation praktisch befaßt? Haben sie eine Kontrolle über die
Kohlenvorräte in den Betrieben? Haben sie mit den Behörden
Verhandlungen gepflogen? Uns scheint, daß bisher noch nichts
getan wurde. Denn wenn etwas nur geschehen wäre, dann
hätten die Arbeiterorganisationen die Pflicht, die Arbeiter-
öffentlichkeit durch die Arbeiterpresse zu unterrichten von der
Lage. Sie hätten die Pflicht, die Arbeiter zwecks Abwehrmaß-
nahmen zu mobilisieren. Wollen die hiesigen Arbeiterorgani-
ationen warten, bis es zu spät ist? Wir fordern die Gewerk-
schaftsleitungen auf, der Arbeiterschaft mitzuteilen, welche
Schritte bisher unternommen wurden. Die Arbeiterschaft sorge
dafür, daß die Gewerkschaftsleitungen sofort Maßnahmen er-
greifen, damit die Arbeiter nicht unter die Räder kommen.
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Stadtarchiv Solingen (13. Februar 2023). 13. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 14. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/aeak