Quelle: Stadtarchiv Solingen, Bergische Arbeiterstimme 7. Februar 1923
Ein eher primitives Beispiel kommunistischer Propaganda mit klischeehafter Auflistung von Inflationsgewinnlern.
Das sind die Nutznießer der nationalen
Einheitsfront!
Es lohnt sich, die Drahtzieher der nationalen Einheitsfront mal
genauer zu besehen. Es herrscht Milchmangel. Trotzdem gibt
es doch noch Menschen, für die noch Milch zu viel da ist. Jene
Aermsten, die nicht in der Lage sind, das ihnen zustehende Quantum
Säuglingsmilch bezahlen zu können. Darüber freuen sich nun wieder
die, die es haben. So konnte man kürzlich beobachten, wie eine
„bessere Dame“, einem Aasgeier gleich, vor den Milchverteilungs-
stellen die armen Arbeitermütter, die für ihre Kinder die Milch nicht
alle nehmen konnten, weil der Lohn des Mannes zu gering ist, an-
bettelte, ihr doch die Karte zu überlassen. Als bekannt wurde, wer
das schamlose Weib war, wäre sie beinahe das Opfer der berechtigten
Empörung geworden.
Ein millionenschwerer Industrieller, dem Solingen wahrscheinlich
zu langweilig geworden war, verlegte sein Domizil in eine benach-
barte Großstadt. Bei der Gelegenheit kamen die Vorräte von Küche
und Keller zum Vorschein: ein vollgepacktes Lastauto beförderte das
„Notwendigste“ an Lebensmitteln, wie erstklassige Räucherwaren,
Konserven, Spirituosen usw. . . .
Ein Neureicher feiert irgendein Familienfest. Es wird nicht
gegessen und getrunken, nein, gesoffen und gefressen! Das Feinste
vom Feinen. Eine ganze Kapelle konzertierte und ein eigens zu dem
Zweck engagierter Konzertsänger sorgte für Abwechslung. Die Woh-
nung ist mit den erlesensten Möbeln ausgestattet, die teuersten Kunst-
werke hängen und stehen umher. Doch kann der Besitzer seine Her-
kunft nicht verleugnen. Neben einem scheußlichen Denkspruch hängt
ein nicht minder scheußliches Reservebild.
Die Solinger Unternehmer haben es wirklich schwer in diesen
Zeiten. Wir sehen, wie eine ganze Reihe von ihnen jahrzehntelang
nicht über den Zwergbetrieb hinauskommen konnte. Doch in den
letzten Jahren, besonders im letzten, ist das anders geworden.
Riesenbetriebe sind entstanden, die manchmal zehn-
fach so umfangreich sind, wie die früheren Stammbetriebe. Eine
einzige Fabrikantenfamilie besitzt „nur“ fünf
Luxusautos. Fragt mal eure Töchter und Schwestern, die als
Verkäuferinnen in Lebensmittel-, Konfektions- oder Schuhgeschäften
tätig sind, wer die Preise hochtreibt. Die Raffgier einer
kleinen Schicht Neureicher nimmt dem Arbeiter das letzte Stück
„billiger“ Ware. Das sind keine Einzelerscheinungen. Sie bilden
die Regel. Diesen Menschen ist das Denken und Empfinden der
großen Masse völlig fremd. Sie können nicht begreifen, daß ihr
Ringen um die Seele der Arbeiterschaft erfolglos bleibt und schimpfen
über den alles beherrschenden Materialismus. Sie verstehen nicht,
daß der Arbeiter dem Vaterland, wie sie es auffassen, absolut
kein Verständnis entgegenbringt.
Wir erklären auf das bestimmteste: Niemals mehr kann es eine
Einheitsfront geben zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen
Prassern und Hungernden, zwischen reich und arm. Wir kennen nur
eine Einheitsfront: die aller Ausgebeuteten gegen
ihre Ausbeuter in internationalem Maßstabe!
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Stadtarchiv Solingen (7. Februar 2023). 7. Februar 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 12. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/aea8