24. Juli 1923

Quelle: Stadtarchiv Solingen, Solinger Tageblatt 24. Juli 1923

Rheinische Städte werden nur unzureichend mit Milch versorgt, da die Landwirte mit dem Milchpreis weniger einnehmen als die Herstellung kostet. Wird eine Neureglung der Preisbildung die Milcherzeuger dazu veranlassen die Produktion zu steigern?

                    Aus Stadt und Umgegend.
                                                                 Solingen, 24. Juli.
         Die Milchpreispolitik der rheinischen Landwirte.
    ʘ  Im Anschluß an die Mitteilung der neuen Erhöhung des
Milchpreises auf 9600 Mark von heute ab haben wir uns in der
gestrigen Ausgabe des „Solinger Tageblattes“ auch mit der Neu-
regelung der Milchpreisfestsetzung nach dem Butterpreis beschäf-
tigt. Es ist von allgemeinem Interesse, die Gründe kennen zu
lernen, die die Landwirte für diese Art der Berechnung ins Feld
führen. Wir möchten es daher nicht unterlassen, ein Schreiben
der Zentralstelle des rheinischen Bauernvereins zu veröffentlichen,
das sich mit dieser Frage befaßt und folgenden Wortlaut hat:
       „Bisher erfolgte die Reglung der Milchpreise in der Rhein-
provinz durch den rheinischen Milchpreisausschuß. Dieser setzt
sich zusammen aus Vertretern der Frischmilch liefernden Landwirte
und der Sammelmolkereien einerseits sowie Vertretern der grö-
ßeren Städte anderseits. Auf Grund vorheriger Verhandlungen
wurde im Wege der Vereinbarung der Milchpreis ab Hof sowie
der Zuschlag für molkereimäßige Behandlung periodisch festgesetzt.
Kam eine Vereinbarung nicht zustande, so wurde auf Grund der
ministeriellen Verordnung vom 30. April 1921 beim Oberpräsi-
denten die Herbeiführung eines Schiedsspruchs beantragt. Be-
kanntlich gehört die Milch noch zu denjenigen Erzeugnissen, welche
zur Sicherung des Notbedarfs einer gewissen zwangswirtschaftli-
chen Reglung unterliegen.
       Diese Art der Milchpreisreglung hat sich besonders in der
letzten Zeit als zu schwerfällig und als für die Dauer unhaltbar
erwiesen. Bevor die Vereinbarungen in Kraft treten konnten,
waren sie durch die fortschreitende Geldentwertung bereits wie-
der überholt. Es ergab sich daher die Notwendigkeit, daß der
Milchpreisausschuß in immer kürzeren Perioden zusammentreten
mußte. Dieses häufige Zusammentreten stellte sich bald als eine
Unmöglichkeit heraus, zumal, da der Milchpreisausschuß mit der
Zeit auf rund 40 Vertreter (vornehmlich aus dem rheinisch-west-
fälischen Großstadt- und Industriegebiet) angewachsen war und
schließlich seit der Ruhrbesetzung eine mehr oder minder völlige
Verkehrssperre eintrat.
       Es zeigte sich ferner, daß die Milchversorgung der Städte
immer schwieriger wurde. Die vereinbarten Milchpreise waren
bisher stets hinter den tatsächlichen Produktionskosten zurückgeblie-
ben, und die Fortführung der Milchwirtschaft bedeutete unter die-
sen Umständen für den Produzenten zweifellos ein Opfer, was
selbst von den Vertretern der Städte bei den Verhandlungen
stets anerkannt wurde. Das Mißverhältnis zwischen den Milch-
preisen und den Produktionskosten zeigte sich in besonders star-
kem Maße seit den letzten katastrophalen Stürzen der Mark. Die
Unzulänglichkeit der bisherigen Reglung hatte zur Folge, daß die
   milchwirtschaftlichen Betriebe immer mehr eingeschränkt oder
umgestellt wurden. Hieraus ergab sich für die städtischen und
industriellen Bezirke eine wesentliche Verminderung der Milchzu-
fuhr, die sich dahin auszuwachsen droht, daß im Spätjahr selbst
der dringendste Notbedarf nicht mehr zur Verfügung steht.
       In Erkenntnis dieser schwerwiegenden Tatsache kamen wohl
die Vertreter der Städte wie der Landwirtschaft im Milchpreis-
ausschuß zu der Auffassung, künftig eine andere Art der Milch-
preisreglung einzuführen. Die landwirtschaftliche Gruppe hatte
bereits vor einer Reihe von Monaten die Anregung gegeben, den
Milchpreis in Zukunft in Beziehung zum Butterpreis zu stellen.
In einigen norddeutschen Großstädten ist diese Methode schon
seit einigen Monaten üblich. Daß von der Behörde der Butter-
preis bereits als Richtschnur für den Milchpreis anerkannt wird,
besagen die Ausführungen des preußischen Staatskommissars für
Volksernährung vom 7. Mai 1921. Es heißt dort im Absatz 4:
„Er (der Frischmilchpreis) wird demnach hinter dem Milchpreis,
der bei einer etwaigen Verbutterung im Erzeugergebiet durch-
schnittlich zu erzielen ist, grundsätzlich nicht zurückbleiben dürfen.“
       Nach eingehenden Beratungen wurde in der letzten Sitzung
des rheinischen Milchpreisausschusses vereinbart, den Milchpreis
fernerhin allwöchentlich festzusetzen, und zwar in der Höhe von
10 v[on] H[undert] des Butterpreises nach Kölner Börsennotierung. Die
Vereinbarung wurde vor allem getroffen in der Erwartung, daß
mit Hilfe der Neureglung die drohende Gefahr eines weiteren
Rückganges und des völligen Versiegens der Milchzufuhr gebannt
wird. Die wichtigste Forderung des Augenblicks ist die Steigerung
der Produktion, welche jedoch nur erreicht werden kann mit Hilfe
einer angemessenen Preispolitik, die den Notwendigkeiten der
Produktion Rechnung trägt. Mit einer solchen auf die Produk-
tionssteigerung gerichteten, vorausschauenden Wirtschaftspolitik
dürfte auch den Interessen der Verbraucher am besten gedient
sein.“

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Stadtarchiv Solingen: RK (24. Juli 2023). 24. Juli 1923. 1923: Alltag in der Krise. Abgerufen am 8. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ae8b